Die besten Drehbücher schreibt das Leben – aber auch die härtesten

Interview mit Detlef Gumm und Hans-Georg Ullrich
von Peter Paul Kubitz, Programmdirektor Fernsehen,
Deutsche Kinemathek Museum für Film und Fernsehen

Lieber Herr Ullrich, lieber Herr Gumm: Über ein Vierteljahrhundert »Berlin – Ecke Bundesplatz« und nun ist Schluss damit: Ist das ein Schluss, bei dem Wehmut aufkommt, oder sagen Sie es reicht?

Ullrich: Einerseits ja, andererseits nein.

Wie darf ich das verstehen?

Ullrich: Wir sind mit unseren Protagonisten und ihren Kindernälter und alt geworden und sie mit uns. Das war für beide Seiten ein spannender Prozess. Wir sind inzwischen sozusagen jeweils beim anderen zuhause. Diese Nähe war einerseits immer auch eine, wenn nicht die Quelle, aus der wir Geschichten schöpfen und weitergeben konnten, Geschichten, auf die man sonst so nicht stoßen würde. Und das macht ja unser Projekt, unsere Filmarbeit, verbunden mit den gesellschaftlichen Prozessen, die stattfanden in all diesen Jahren

Gumm: Denken Sie nur an den Fall der Mauer, der ja, zumindest in Berlin, nicht nur das Leben der Menschen im Osten mit einem Schlag verändert hat

Ullrich das macht die Geschichten so spannend. Diese Nähe zu den Menschen, in der sich auch persönliche Dramen abgespielt und dann und wann auch mit großen gesellschaftlichen Ereignissen vermischt haben, diese Nähe hat irgendwann auch eine zweite Seite; man kennt sich gut, manchmal vielleicht schon zu gut und dann ist das wie in allen menschlichen Beziehungen: Will man am Ende nicht in Sprachlosigkeit verfallen, muss man sich immer auch ein Stück auf Distanz halten können, sich fremd und neu bleiben können füreinander – und in unserem Falle vielleicht auch an ein Ende kommen, ein gutes Ende.

Gumm: Noch etwas zu dem Aspekt, wie man, wie beide Seiten neugierig und offen füreinander bleiben können: Da hilft einem auch das reale Leben, schaut man nur genau genug, liebevoll, aber eben auch kritisch und selbstkritisch hin, mitunter auf die eine oder andere Weise weiter. Nicht selten war es, vor allem nach dem ersten zeitlichen Drittel des Projektes, so, dass wir dachten, wir sehen oder ahnen wenigstens da und dort doch schon im Voraus, was sich in ein zwei Jahren bei wem wie weiterentwickeln könnte. Manchmal hofften und bangten wir auch mit unseren Protagonisten und ihren Lebenswünschen mit. Und dann spielte das Leben ihnen und damit in anderer Form natürlich auch uns, auf eine ungeahnte Weise mit, wurden die Karten sozusagen neu gemischt.

Beispielsweise?

Gumm: Wir wären nicht im Traum darauf gekommen, dass der Prominenten-Anwalt, der den einst so berühmten Boxer Bubi Scholz vor Gericht verteidigt hat, eines Tages selbst im Gefängnis landen würde.

Ullrich: Und wie lange haben wir, nicht ohne Grund, wohlgemerkt, gehofft, dass sich die Kinder der immer wieder arbeitslosen und selbst seelisch und körperlich so kranken Krankenschwester aus dem Muster dessen, was wir heute mal eben so als Prekariat bezeichnen, lösen würden. Nun hält sich das Muster, weitet sich der Teufelskreis in die dritte Generation.

Gumm: Dass wir mit diesem wunderbaren, lebensmutigen Bäckerpaar eine Tages nach Auschwitz fahren würden

Ullrich: Dass ein Punk aus dem Park eines Tages bei uns Kamera-Assistent werden würde - das sind die Drehbücher, die das Leben geschrieben hat, nicht wir

Gumm: Es sind die besten

Ullrich: Aber eben auch nicht selten die härtesten.

Gumm: Und dass zwei homosexuelle Männer, linker Literat der eine, aus großbürgerlichen Verhältnissen stammend, ehemaliger Polizist der andere, aus provinzieller Enge nach Berlin geflüchtet und da zum Kunstmaler geworden, sich tatsächlich ein Leben lang die Treue halten würden, halten könnten bei all den sozialen Differenzen und in der Frühzeit auch der gesellschaftlichen Ablehnung gegenüber Schwulen, dass sich diese Liebesgeschichte bis hinein in ein dann auch noch sehr schwierig gewordenes Alter am Leben erhalten würde – wer von uns, wer hätte das gedacht?

Ullrich: Reimar Lenz und Hans Ingebrand, von den beiden Männern sprechen wir gerade, sind aber auch auf eine andere weise ein sehr interessantes Paar für uns geworden: Sie waren oder wurden – wie viele andere Protagonisten auch, aber eben auch doch noch ein Stück mehr – mit jedem Dreh film- und medienkompetenter. So kam es, dass wir uns mit unseren Filmen auch immer wieder von ihnen kritisch infrage stellen lassen mussten, gerade von ihnen. Auch das gehört zu den besonderen, wenn auch dem Publikum verborgen bleibenden Aspekten, eines solchen auf lange Zeit hin angelegten Projektes. Nicht nur die Protagonisten stellen sich uns, wir haben uns auch ihnen zu stellen. Und das nicht einmal, sondern immer wieder. Nach jeder Sendung, nach jeder Vorführung im Kino.

Gumm: Und die Geschichte hat eine kleine, medienkritische Pointe: Über all die Jahre hinweg begleitete uns immer wieder mal die Fotografin Ingeborg Ullrich, Georgs Frau, fotografierte uns und die Dreharbeiten, porträtierte dann aber zugleich auch und auf ihre Weise und für sich die Menschen vom Bundesplatz. Eines Tages nahm Reimar Lenz eben diese Fotografien, die er sehr schätzt, und nicht nur er, zur Hand und begann mit uns eine Debatte um die Vorzüge solcher Fotografien gegenüber jeder Art von Film.

Ullrich: Die Debatte ist noch nicht abgeschlossen.

Was für Reaktionen erhalten Sie denn von den Zuschauern?

Gumm: Ich sage gerne scherzhaft: »Bundesplatz« macht süchtig. Viele Zuschauer wollen immer wieder wissen, wie es weitergeht im Leben dieses oder jenes Protagonisten. Da ist inzwischen eine richtige Fan-Gemeinde entstanden.

Ullrich: Und natürlich berühren die Zuschauer diese Lebenswelten am Bundesplatz auf ganz unterschiedliche Weise. Sehr viel Post erhielten wir beispielsweise zu Marina Storbeck, von ihr war gerade schon einmal die Rede, und deren verzweifelter, verzwickter Lage: Wie eine jungen Frau, die noch bis zur Geburt ihres zweiten Kindes voller Optimismus und Freude fest daran glaubt, die ganze Situation meistern zu können, obwohl sie allein stehend ist, wie sie aber, noch bevor sie das dritte Kind kommt, zusehends in den sozialen Abstiegsstrudel gerät, das hat viele Menschen bewegt, berührt. Früher Krankenschwester, dann Sozialhilfeempfängerin

Gumm: Und dann, wenn ich das mal so salopp formulieren darf: Kein Anschluss mehr unter dieser Nummer.

Ullrich: Ein Beispiel dafür, wie rasant und unerbittlich in unserer Gesellschaft der Abstieg erfolgen kann. Inmitten einer bürgerlichen Wohngegend Gleichgültigkeit, Desinteresse, soziale Kälte und dann der Wegzug an die Peripherie der Großstadt.

Gumm: Da wird der Kiez zum Mikrokosmos vieler Probleme unserer Gesellschaft.

Ullrich: Und das ganze Projekt am Ende eine Studie unserer Lebenszusammenhänge und ihrer ständigen Veränderungen, eine Studie unserer Zeit.

Erinnern Sie sich noch an die Anfänge des Projektes?

Gumm: Ursprünglich wollten wir ein ganzes Dorf oder auch eine kleinere Stadt oder den gesamten Bezirk eine Großstadt porträtieren. Dann kam aus dem WDR der Vorschlag: Bleibt doch unmittelbar in eurer Arbeitsgegend, also rund um das Filmbüro in Berlin-Wilmersdorf! Wir waren einverstanden und begannen dann im Kiez mit einer Postwurfsendung. Treppauf treppab verteilten wie die Anschreiben mit der Frage an unsere Nachbarn: Haben Sie Lust, können Sie sich vorstellen bei uns, bei diesem Filmvorhaben mitzuwirken?

Wie viele Personen haben Sie damals erreicht beziehungsweise angesprochen?

Ullrich: Erinnere ich es richtig weit über einhundert in der unmittelbaren Umgebung, rund ein Drittel haben wir schließlich in die engere Wahl genommen, weil wir in ihren Lebensbereichen all die Momente sahen, die uns für eine längere Filmarbeit wichtig schienen und über die wir hier ja schon gesprochen haben.

Jetzt, 2013, wäre es doch an der Zeit, die nächste, die dritte Generation ins Bild zu setzen und zu Wort kommen zu lassen, die Porträts der Enkelkinder ihrer Protagonisten stehen jetzt an. Und eben in diesem Moment, ich komme zu meiner Eingangsfrage zurück, hören Sie auf?

Gumm: Zu der Frage gäbe es viel und sehr unterschiedliches zu sagen. Ich fange mal mit einer ganz einfachen Antwort an: Ein Projekt wie dieses geht ganz schön an die Nieren, will sagen, es kostet auch eine Menge Kraft. Die haben wir seit 1985, als wir die ersten Anfragen im Kiez verteilt haben, gerne investiert. Aber diese Kraft ist investiert und so was geht nicht endlos, das kann man nicht unendlich weiter betreiben. Da müsste jetzt eine neue Generation von Filmemachern ans Ruder.

Ullrich: Weil Detlef gerade von Investitionen spricht: Wir haben viel investiert, das ist wahr. Aber auch die, die mit uns gegangen sind. Dazu gehören, ich betone es noch einmal, zuerst und zuletzt die Menschen hier rundherum um unser Filmbüro in der Weimarschen Straße. Dazu gehören natürlich aber auch alle, die bei den Dreharbeiten dabei waren, beim Schnitt, bei der Organisation und Produktion...

Gumm: unsere Bank, auf diesem Sektor hat sich ja inzwischen auch einiges geändert, nicht zu vergessen

Ullrich: Und dazu gehören natürlich alle Programmverantwortlichen in den Sendern. Auch dort ist ja auch investiert worden.

Dass Sie beide schon dabei sind zu bilanzieren, nur noch eine Frage: Welches Fazit ziehen Sie beide ganz persönlich, was bleibt Ihnen am Ende von »Berlin – Ecke Bundesplatz«?

Ullrich (zu Gumm): Soll ich als Erster antworten, auch auf die Gefahr hin, dass dann für Dich nicht mehr viel zu sagen übrig bleibt?

Gumm: Bitte, tu Dir keinen Zwang an!

Ullrich: Am Ende ist da und bleibt vor allem große Dankbarkeit dafür, dass wir beide das machen durften. Auch immer wieder mal ein Gefühl von Glück. Und auch etwas Stolz auf das, was wir nun erarbeitet haben. Zusammen mit allen, die Sie in den Filmen und auf den Abspännen wieder finden. Das bleibt. Und wird weiter wachsen. Tag für Tag.

Gumm: Dem habe ich nichts mehr hinzuzufügen.



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